Die Evolution von HR

Die provokative These zuerst: Personalbereiche stehen am Scheideweg. Sie können Organisationen jetzt aktiv zukunftsfähig gestalten. Oder sich selbst unnötig machen. Ein Artikel über die Chancen von HR – jetzt.

Die Geschichte einer Bank

ING wird agil
Screenshot aus dem Video der ING (https://www.youtube.com/watch?v=UpXrr1GdGUY)

Screenshot aus dem Video der ING Österreich (Link)

Stellen Sie sich vor, eine große Bank beschließt, ihre Zusammenarbeit grundsätzlich neu zu denken: Das Thema Entscheidung von Führungskräften in Entscheidungsprozesse zu übertragen, die von Agile Coaches unterstützt werden, und Mitarbeitende nicht mehr in funktionalen Teams sondern in selbstorganisierten Squads entlang der Prozesskette der Produkte zu organisieren. Welche Rolle hätte bei einer solchen Umwälzung der bestehenden Verhältnisse HR? Natürlich die des Treibers! Die Bank um die es hier geht ist die ING. Und getrieben wurde HR – von der IT.

Medienbrüche und Organisationsformen

Prozessuale Organisationsmodelle, solche mit Verfassung wie Holacracy oder matrixähnliche Organisationsformen wie das Spotify-Modell sind ebenso wenig eine Modeerscheinung wie die Nutzung von IT selbst. Dirk Bäcker hat unsere Zeit als die eines vierten Medienbruchs beschrieben. Jeder Medienbruch gebiert eine zu ihm passende Organisationsform. Am Anfang war das Wort, das Wort ohne Schrift. Eine solche Kultur hat keine geteilte Vergangenheit und Zukunft, sie lebt im Hier und Jetzt, ihre Realität entsteht durch das Sprechen selbst. Die dazu passende Organisationsform hat Laloux in seinem Buch Reinventing Organizations (2015) – eine Zusammenfassung von Don Becks Spiral Dynamics (2005), das auf den Forschungen von Clare Graves aufbaut – autoritär genannt.

Die Evolution der Organisation (nach Lalloux, 2015)

Die autoritäre Organisationsform

Eine autoritäre Organisation wäre beispielsweise die Mafia. Der gehobene oder sich senkende Daumen des Paten entscheidet allein, ob meine Füße über roten Samt laufen oder in grauem Beton stecken – auf dem Weg an den Grund des Cospudener Sees. Es gibt einen entscheidenden Vorteil gegenüber der reinen Anarchie: die Arbeitsteilung. Der Pate muss nicht alles selber machen. HR aber ist seine originäre Kompetenz. Der Pate allein entscheidet über Zugehörigkeit und Funktion innerhalb der Organisation.

Die Organisationsform von Verwaltung, Kirche und König

Der erste Medienbruch kommt mit der Erfindung der Schrift, die den Menschen plötzlich die Gewissheit über vergangene Absprachen (Vertrag) oder Besitzverhältnisse (Grundbuch) gibt. Sie ersetzt die dialogische Erschaffung der Realität durch ihre in Buchstaben gemeißelte Verschriftlichung. Sie erzeugt in fast logischem Schluss die Verwaltung, die schon immer dem Aufbau der klassischen Monarchie oder der Kirche folgt. Ein König, Papst oder Bürgermeister, Wasserfallkaskaden nach unten, Informationsblockaden nach oben. Stabile Prozesse, eine Organisation der Wiederholung, sind die Errungenschaft dieser Form. Personalabteilungen werden ab einer gewissen Größe nötig. Vor allem dann, wenn den Mitgliedern der Organisation bestimmte Rechte eingeräumt werden. Uralub zum Beispiel. Eine solche Organisation hält mindestens tausend Jahre und zeugt Kirche wie Königreiche. Das liegt an ihrer DNA, die explizit Stabilität schaffen soll, nicht Veränderung. Dann folgt der nächste Medienbruch.

Die kapitalistische Organisationsform

Die massenhafte Verbreitung des Wissens über den Buchdruck kennzeichnet nach Bäcker den Eintritt in das Produktionszeitalter. War vorher eine Bibel das produktive Lebenswerk eines Mönchs, und konnte nur von Menschen mit großem Latinum interpretiert werden, so wurde plötzlich jedes Wissen auf der Welt für jeden Menschen zugängig. Man war nicht mehr auf die Überlieferung des Vaters angewiesen, man konnte nun selber lesen. Massenhafte Bildung ging damit einher, und eine Organisationsform, die noch ähnlich statisch war wie die Monarchie, sich aber der kontinuierlichen Verbesserung verschrieben hatte. Nicht nur das Wissen konnte kontinuierlich verfeinert werden, auch die eigenen Kompetenzen und natürlich die persönliche Leistung, die Antreiber für die kontinuierliche Verbesserung von Produktion und Produkten und diese letztlich für die immer weiter wachsende Marge der Gesellschafter wurde. HR bekommt hier plötzlich eine exponiertere Stellung. War man in der konformistischen Organisationsform eher Ablage ist HR in Produktionsbetrieben mit am Leitungstisch – als gleichberechtigte Technologie neben denen der Wertproduktion. Personal will nicht mehr nur verwaltet sondern entwickelt, weitergebildet und gehalten werden. Das klingt doch bereits sehr nach dem kapitalistischen Leistungsystem, in dem sich unsere Organisationen bis 2010 bewegten – bis zum nächsten Medienbruch, in dessen Zentrum wir uns gerade befinden.

Die evolutionäre Organisationsform

Evolution von HR

Erinnert sich noch jemand an eine Zeit ohne Internet? Oder in der Internet eher ein Nerd-Hobby für Freaks oder die Spielwiese von Wissenschaftlern war? Eine Zeit ohne Smartphone mit der ständigen Verfügbarkeit jeglichen Wissens der Welt, nur einen Tastendruck entfernt? Um die Jahrtausendwende war das, 20 Jahre her, und etwa 10 Jahre später wurde vielen klar, dass das Internet gekommen ist, um zu bleiben. Und damit auch der vierte Medienbruch. Der kennzeichnet sich aber nicht nur durch den Übergang von Büchern in die digitale Welt der Kindles, Tablets, Smartphones & Co sondern auch – und hier stehen wir gerade am Beginn – durch die Zusammenarbeit von Mensch und Künstlicher Intelligenz (KI). KI meint dabei nicht nur die algorithmisierte Auswertung von Big Data, wie sie gerade in aller Munde ist. Sondern selbstlernende, sich selbst optimierende Programme, denen nicht mehr der Mensch die Richtung, den Algorithmus vorgibt. Unmittelbarkeit, ständige Verfügbarkeit, die Auflösung der Grenze zwischen Dienst und Schnaps, die Corona über Zoom Links in die Wohnzimmer der Belegschaft befeuert hat, Führung auf Distanz, Teammitglieder auf mehreren Kontinenten – all das sind Schlagwörter der schönen neuen Welt heute.

Und verwundert es ernsthaft, dass HR in einer solchen Zeit von IT auf links gekrempelt wird? Die Transformation der ING war zunächst nur die prototypische Transformation der IT, die aber danach die Richtung vorgab und den Rest der Organisation mit sich ins agile Land riss – inklusive HR. Das muss man nicht schlecht finden. Aber sollte ein solcher Wandel, der innerhalb von zwei Monaten die Stellenbeschreibung von 2500 Mitarbeitenden auf links krempelt und die Anzahl der Funktionen in der Bank von 85 auf 15 zusammenkürzt nicht maßgeblich durch HR getrieben werden? Ist HR nicht genau dafür da: die Organisation fit für die zukünftigen Herausforderungen zu machen? Oder ist die Verwaltung der Mitarbeiterschaft – vom Vertrag zur Urlaubsplanung und der jährlichen Hotelbuchung für das Upskilling mit externem Trainer – schon genug an Rollenbeschreibung? Nur verwalten: das können in Zukunft auch Programme übernehmen. Der Mehrwert des Menschen gegenüber der Maschine wird in Zukunft noch deutlicher sein Denken in rhizomatischen Netzwerken sein, der Basis der Kreativität und Neuerfindung.

HR – know or no?

Der Future of HR Radar der KPMG fragte 2019 an HR gerichtet: „are you in the know or in the no?“. Nutzen Sie die Vorteile der Digitalisierung und gehen ihre Herausforderungen proaktiv an oder verweigern sie sich dem Change, der gekommen ist, um zu bleiben. Das grob gerundete Ergebnis der KPMG-Analyse: 1/3 gehen proaktiv nach vorne, 1/3 haben die Digitalisierung auf dem Zettel, 1/3 stecken den Kopf in den Sand. Und nun zurück zur Eingangsthese: verschwinden oder treiben? Offensichtlich haben 1/3 der Personalabteilungen gute Chancen auf letzteres.

5 Möglichkeiten für die HR der Zukunft

Die Geschichte von HR war die eines kontinuierlichen Aufstiegs entlang der Evolution der Organisationsformen. Nun steht sie am Scheideweg: wird sie proaktive Gestalterin der nächsten Evolutionsstufe von Organisation oder entwickelt sie sich zurück zu den Aufgaben des konformistischen Zeitalters? Meine These dazu: HR sollte nicht warten, bis das Ergebnis feststeht. Sondern eine treibende Rolle übernehmen, wenn es um den nächsten Schritt geht. Was es dafür braucht ist der Mut und der Wille zur Innovation. Hier fünf konkrete Ideen dazu, was HR tun kann, um vor die Veränderungswelle zu kommen:

  1. Treiber eines anderen Organisationsdesigns werden. Eine andere Form der Zusammenarbeit wird anderswo entschieden, HR kann aber wie IT bei ING prototypisch mit neuen Organisationsformen experimentieren. Und würde so nicht nur einen ersten Use Case für diese neuen Orgdesigns bieten, sondern könnte treibend, beratend und unterstützend zur Seite stehen, wenn ein solcher Change dann tatsächlich ausgerollt wird.
  1. Führung neu denken. Das hat zwei Dimensionen. Im Sinne der Ambidextrie geht es um die Entwicklung eines neuen Führungstypus, der sich eher als Befähiger und Coach denn als Entscheider und Forderer versteht. Es geht hier um die Stärkung der linken Hand: der Kreativität, Flexibilität, Agilität. Die zweite Dimension besteht aus der Konstruktion von Prozessen und Rollen, die das Thema Entscheidung aus den Händen der Führungskräfte in die von Rollen oder Teams transferieren. Weil die Rolle der Führung in Organisationen viel zu wichtig ist, um sie den Führungskräften zu überlassen.
  1. Die Organisation purposeorientiert gestalten. Das sorgt für Transparenz und Sinnhaftigkeit auf allen Ebenen und führt in Verbindung mit der Obejctives and Key Results Logik oder den Ideen zu Rolle und Spannung in Holacracy zu einer höheren Effizienz der Organisation. Und dahinter schiebt sich die Organisation alleine auf ein anderes evolutionäres Level aus Transparenz, Beteiligung und Engagement.
  1. Nutzung von Daten. KI wird Daten nutzen. Gut wenn HR vorher weiß, was in diesen Daten stecken könnte. Anfangen könnte HR bei sich selbst: mit der Einführung einer Wirkungsevaluation, die diesen Namen auch verdient. Und mit der strukturierten Sammlung und Auswertung von Daten, die ohnehin vorliegen. Das beginnt bei der Eignungsdiagnostik. Aber auch Einstellungsvorschläge könnten einem Team automatisiert auf Grund der aktuell fehlenden Kompetenzen aus internen oder externen Bewerberpools gemacht werden. Ja, es gibt die DSGVO. Sie ist aber keine Abkürzung für Nichtstun.
  1. Lernen von agilen Organisationen: Denken in iterativen Schritten und Prototypen. Eine Organisationsform ist nicht ganz einfach veränderbar. Aber Teile davon können eingeführt werden. Wenn einzelne Teile der vier Vorschläge eingeführt und umgesetzt werden, ergibt sich schleichend ein neues Bild. Doch Vorsicht: Kulturen haben die Tendenz zur Statik und zum Rückfall in alte Muster (das macht ja ihre Stärke aus). Die Dosis macht hier das Gift. Viele kleine Änderungen lassen sich, sobald sie live gegangen sind, schwerer einfangen als der große Wurf, der sich dann – natürlich – als Fehler erweisen muss um von den alten Köpfen wieder rückabgewickelt werden zu können.

Und bei alldem den Spaß an der Sache nicht verlieren. Selten war das Wetter besser für Veränderungen. Und wenn man schon keine Chance hat, dann könnte man sie auch nutzen – oder?

Gerne unterstützen wir Sie bei der Umsetzung dieser Ideen:

Literatur

Frederic Laloux (2015). Reinventing Organizations: Ein Leitfaden zur Gestaltung sinnstiftender Formen der Zusammenarbeit. München: Vahlen.

Dirk Bäcker (2007). Studien zur nächsten Gesellschaft. Berlin: Suhrkamp.

Don Beck (2005). Spiral Dynamics: Mastering Values, Leadership and Change. Hoboken (NJ): Wiley-Blackwell.

KMPG (2019) The Future of HR 2019. https://assets.kpmg/content/dam/kpmg/xx/pdf/2018/11/future-of-hr-survey.pdf (Abruf März 2020).

Schotkamp, T;  Danoesastro, M. (2018). HR’s Pioneering Role in Agile at ING. https://www.bcg.com/de-de/publications/2018/human-resources-pioneering-role-agile-ing /Abruf März 2020).

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